Amina und der Fluss Una

Das Mädchen und der Fluss

In Bihać, einer Stadt, in der die Morgen mit dem Duft von frischem Brot und dem Flüstern des Flusses erwachen, lebte ein Mädchen namens Amina. Ihr Haus war klein, aber voller Licht, mit einem Fenster zur Straße. Für die meisten Menschen war diese Straße alltäglich, nichts Besonderes: Kinder jagten manchmal einem Ball hinterher, Frauen unterhielten sich über Kleinigkeiten, alte Männer tranken Kaffee auf Bänken und nickten den Vorbeigehenden zu.

Für Amina jedoch war jede Kleinigkeit wie ein Edelstein. Wenn eine Katze die Straße überquerte, stellte sie sich vor, sie sei auf geheimer Mission. Wenn ein Hund bellte, schien es ihr, als warne er vor einem unsichtbaren Gast. Und manchmal wurde selbst die Stille zur Geschichte — eine Stille, die tausend unerzählte Stimmen verbarg.

Doch Amina blieb nicht am Fenster. Ihre Augen suchten immer etwas weiter, etwas jenseits der Häuser und Gärten, etwas, das leise floss und im Sonnenlicht glitzerte — den Fluss Una.

Für Amina war die Una nicht einfach Wasser. Sie war ein lebendiges Buch, geschrieben ohne Worte. Sie war ein Lied, das man nicht mit den Ohren, sondern mit dem Herzen hörte. Jeden Tag ging Amina ans Ufer, setzte sich auf denselben Stein und blickte auf die kristallklare Oberfläche.

Das Wasser war nie gleich. An einem Tag trug es Blätter vom nahen Kastanienbaum, am nächsten spiegelte es den blauen Himmel, und manchmal flüsterte es im Mondlicht. Amina wusste eines: Der Fluss erinnert sich. Alles, was Menschen nicht aussprechen können, alles, was sie verbergen wollen, alles, was niemals vergessen werden darf — der Fluss weiß es und bewahrt es in seiner Tiefe.

An einem Frühlingsmorgen, als noch Tautropfen am Ufer glitzerten, saß Amina auf ihrem Stein und versank gedankenvoll im Wasser. Da hörte sie ein Flüstern. Es war nicht das Flüstern von Menschen oder Wind. Es war die Stimme des Flusses.

„Hier saß einst eine Frau mit schwarzem Haar“, flüsterte die Una. „Sie wartete und ließ ihre Tränen in mich fallen. Hier schlief ein Vogel ein, und ein Kind warf einen Stein und wünschte sich, niemals erwachsen zu werden.“

Mädchen sitzt still auf einem Stein am Flussufer und blickt in das Wasser der Una.

Amina hörte zu, mit weit geöffneten Augen. Ihr Herz schlug schneller, doch sie verspürte keine Angst. Nur Wärme, als ob der Fluss ihr Geheimnisse schenkte.

— Ich bin ein Teil von dir — flüsterte das Mädchen. — Und du bist ein Teil von mir.

Die Una rauschte zustimmend, und das Morgenlicht flackerte auf der Oberfläche.

Begegnung mit Mirsad

Am nächsten Tag, während sie dem Flüstern des Wassers lauschte, hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und sah einen Jungen, fast in ihrem Alter. Er hatte ein schelmisches Lächeln und zerzaustes Haar, in der Hand hielt er einen kleinen Stock, als wolle er angeln.

„Was machst du jeden Tag hier?“ fragte er neugierig.

Amina lächelte, etwas verlegen. „Woher weißt du, dass ich jeden Tag hier bin?“

„Ich weiß es einfach“, antwortete der Junge und setzte sich auf den Stein neben ihr. „Ich sehe dich vom Fenster aus. Ich warte auf das Boot mit den Pfauen, und dabei sehe ich dich immer.“

„Ein Boot mit Pfauen?“ wiederholte Amina und riss erstaunt die Augen auf. „Hier gibt es keine Pfauen.“

Mirsad blickte auf den Fluss, als suche er etwas, das nur er sehen konnte.

„Es sind keine echten Pfauen. Es ist ein Boot“, sagte er leise. „Alt, aus Holz, bemalt mit bunten Federn. Mein Großvater sagt, es wurde einst von einer Frau gesteuert, die nicht sprach, aber alle Sprachen des Flusses verstand.“

Amina verstummte. Ihr Herz hüpfte, denn das erinnerte sie an das, was der Fluss ihr gestern geflüstert hatte.

„Ich habe so ein Boot noch nie gesehen“, gestand sie.

„Vielleicht hast du nicht zur richtigen Zeit geschaut“, sagte Mirsad ernst. „Es kommt nur, wenn jemand still sitzt und nichts verlangt.“ Amina lächelte. „Dann wird es sicher kommen. Ich verlange nie etwas.“

Die beiden schwiegen und blickten ins Wasser. Und als ob der Fluss wusste, dass sie lauschten, flackerte die Oberfläche in der Ferne. Nicht vom Wind, nicht von Fischen — sondern von etwas anderem, etwas, das sich näherte.

Ihre Augen leuchteten, doch sie sprachen kein Wort. Sie warteten einfach.

Da ertönte eine Stimme hinter ihnen: „Mirsad, wo bist du? Ich suche dich schon seit einer halben Stunde!“

Es war Mirsads Vater, ein kräftiger Mann mit sanften Augen. Er trat näher, und als er Amina sah, lächelte er.

„Ich wollte dich fragen, ob du das Boot mit den Pfauen gesehen hast“, sagte er, „aber jetzt sehe ich, dass du nicht nur das Boot gesehen hast, sondern auch die schönste Pfauin in ganz Bihać gefunden hast.“

Amina errötete, und Mirsad sprang schnell auf. „Komm, Amina, lass uns spielen! Vielleicht wird die Una eines Tages anderen Kindern von uns erzählen.“

Und so begann ihre Freundschaft — erfüllt von Lachen, Spiel und endlosen Geschichten am Fluss.

Geheimnisse des Flusses

Tag für Tag kamen Amina und Mirsad ans Ufer. Ihre Spiele hatten immer etwas mit dem Fluss zu tun. Einmal bauten sie Sandburgen und stellten sich vor, es seien Elfenpaläste. Ein anderes Mal warfen sie kleine Steine und glaubten, jeder Kreis auf dem Wasser öffne ein Tor zu einer anderen Welt.

Eines Tages trafen sie ein Mädchen namens Lejla, das einen geflochtenen Korb voller Äpfel trug. Als sie die beiden am Ufer sitzen sah, lächelte sie.

„Was macht ihr da? Schaut ihr einfach nur dem Wasser zu?“

„Nicht nur das“, sagte Amina stolz. „Der Fluss erzählt uns Geschichten.“

Lejla verdrehte die Augen, blieb aber bei ihnen. Als sie die Äpfel ins Gras legte und sich setzte, rauschte das Wasser lauter.

„Hört ihr das?“ fragte Amina.

„Ich höre nichts“, sagte Lejla.

„Weil du zu viel fragst“, fügte Mirsad hinzu und runzelte die Stirn wie ein kleiner Weiser.

Und genau in diesem Moment glitt ein schimmernder Schatten über die Wasseroberfläche. Die Form von Federn, bunt wie vom Sonnenlicht gemalt. Die Kinder hielten den Atem an.

„Das Boot…“ flüsterte Mirsad. Lejla sprang auf. „Ich habe es gesehen! Wirklich, ich habe es gesehen!“

Von diesem Tag an schloss sich Lejla ihren täglichen Treffen an. Die Una begann, immer mehr Geheimnisse zu flüstern. Sie erzählte von Fischen, die den Weg zum Meer kennen, von alten Brücken, die die Schritte vergangener Lieben bewahren, von Nächten, in denen Sterne bis zur Wasseroberfläche sinken.

Die Kinder hörten zu, saugten alles auf und versuchten manchmal, das Gehörte aufzuschreiben. Ihre Hefte füllten sich mit Zeichnungen, Versen und Symbolen, die sie nicht ganz verstanden, aber als kostbar empfanden.

Ein stilisierter Holzboot mit Pfauenfeder treibt auf der lebhaften Una, während Kinder am Ufer stehen und ein Wasserfall im Hintergrund rauscht.

Der Fluss erinnert sich

An einem Sommertag, als Hitze und Sonne stärker strahlten als je zuvor, saßen die Kinder wieder am Ufer. Das Wasser war ruhig, fast wie Glas.

„Heute wird es sicher kommen“, sagte Amina leise.

Und tatsächlich, aus der Ferne erschien das alte Boot. Es war aus Holz, bemalt mit bunten Federn in den Farben eines Pfauenschwanzes. Es glitt langsam heran, obwohl niemand ruderte.

Die Kinder standen auf und liefen bis zum Rand. Ihre Herzen schlugen wie eines.

„Wer steuert es?“ fragte Lejla.

„Vielleicht die Frau, von der mein Großvater erzählt hat“, sagte Mirsad.

Das Boot näherte sich dem Ufer und hielt direkt vor ihnen. Darin war niemand. Nur ein Stück weißes Tuch, auf dem Worte geschrieben standen:

„Wer still sitzt und lauscht, wird Teil der Geschichte.“

Die Kinder sahen sich an. Sie wussten, was das bedeutete. All ihre Spiele, Gespräche, Träume — all das hatte der Fluss nun mitgenommen, um es für immer zu bewahren.

Amina legte ihre Hand auf das Wasser. „Versprich, dass du uns bewahrst.“

Die Una rauschte lauter als je zuvor. Und in diesem Rauschen war ein Versprechen zu hören.

Von diesem Tag an kamen die Kinder weiterhin zum Fluss. Ihre Freundschaft wuchs mit dem Wasser, und auch wenn sie eines Tages erwachsen werden würden, wussten sie: Sie würden immer ihren Platz am Ufer haben.

Weil Una erinnert sich. Und sie wird immer erzählen — von einem Mädchen, einem Jungen und ihrer Freundin Lejla, die still saßen und Teil einer Geschichte wurden, die das Wasser niemals vergessen wird.

🌼 Federfunkelnfee

🌿 Edina Hrnčić

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